K. von Greyerz u.a. (Hrsg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum

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Title
Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum 4: 1650-1750.


Editor(s)
Dinzelbacher, Peter; von Greyerz, Kaspar; Conrad, Anne
Published
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Extent
481 S.
Price
€ 108,00
URL
by
Gabriele Jancke, Friedrich Meinecke-Institut, FU Berlin, Koserstr. 20, 14195 Berlin

Der Band ist Teil des von Peter Dinzelbacher herausgegebenen Handbuches der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum und befasst sich mit dem Zeitraum von 1650 bis 1750. Das insgesamt sechsbändige Handbuch behandelt die Zeit von der Antike bis zur Gegenwart aus der Perspektive von HistorikerInnen, wobei auch interdisziplinäre Aspekte – vor allem aus kunst- kirchen- und architekturhistorischer, literaturwissenschaftlicher und volkskundlicher Perspektive – berücksichtigt werden. Die vier Beiträge des Bandes befassen sich mit den drei christlichen Gross-Konfessionen Katholizismus (Anne Conrad), Luthertum (Sabine Holtz) und Reformiertentum (Kaspar von Greyerz) – so die Begrifflichkeit der Beiträge – sowie mit aschkenasisch-jüdischer Religiosität (Avriel Bar-Levav). Diese Aufteilung mit ihrem stark konfessionsorientierten Ansatz geht auf den ursprünglich vorgesehenen Band-Herausgeber Hans-Christoph Rublack zurück. Nach dessen Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen übernahm zunächst Kaspar von Greyerz den Band und entwickelte diese Konzeption weiter in eine mehr kultur- und mentalitätsgeschichtliche Richtung. Der vorliegende Band setzt den Dreissigjährigen Krieg und die Aufklärung als zeitliche Grenzen und, so heisst es im knappen Vorwort, als «sachlich begründeten Orientierungsrahmen». Der Band ist mit einem Personen- und einem Ortsregister versehen; ein Sachregister, das für die Erschliessung der zahlreichen Themen eigentlich unerlässlich wäre, fehlt leider.

Wie das Handbuch insgesamt, ist auch dieser Band einem religionsphänomenologischen Ansatz mit beschreibendem Schwerpunkt verpflichtet. Was das genau heisst für den hier behandelten Zeitraum und wie die HerausgeberInnen auf der Grundlage ihrer langjährigen Forschungen Religion in Gesellschaften der Frühen Neuzeit fassen würden, wird nicht explizit ausgeführt. Auch vom gesamten Handbuchwerk her sind die Ziele des vierten Bandes nicht näher zu bestimmen. Schade, dass der so reiche Informationsteil nicht durch Ausführungen zur eingangs angedeuteten Entwicklung des Konzeptes – von einer stark konfessionsorientierten hin zu einer kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Sichtweise – ergänzt wird; diese eigentlich unerlässlichen konzeptuellen Ausführungen würde man sich dann wenigstens separat als Aufsatz wünschen.

Allen drei Beiträgen zu christlichen Konfessionen liegt ein gemeinsames Gliederungsschema zugrunde: Eine Einleitung mit zwei Teilen bietet eine Einführung in den jeweiligen Forschungskontext sowie in die historischen Rahmenbedingungen; das jeweilige Konfessionalisierungs-Paradigma wird diskutiert sowie ergänzend mit Debatten zur Volkskultur verarbeitet. Der mit «Historische Phänomenologie» überschriebene Hauptteil präsentiert jeweils eine Fülle von differenziert aufgeschlüsselten Informationen und Beispielen, die systematisch einer weitgehend analogen Palette von Themen zugeordnet sind: Medien der Glaubensvermittlung, Vermittler, Vorstellungswelten, Glaubenserfahrungen, Zeichen des Sakralen, Wort (nur für Luthertum und Reformiertentum), Raum und Lebensphasen. Im Beitrag zum Katholizismus findet sich weiterhin ein Abschnitt zu neuen Orden, in dem auch die neuen weiblichen Orden ausführlich behandelt sind und ansatzweise eine Geschlechtergeschichte eines Teilbereichs von Religion entfaltet wird – soweit es der Forschungsstand zulässt; die Kontinuitäten und Wandlungsprozesse der älteren Orden bleiben unberücksichtigt. In den Artikeln über die protestantischen Konfessionen wird der Pietismus mit erwähnt; konfessionelle Minderheiten wie die Täufer, Schwenckfelder, Sozinianer bleiben ausdrücklich unberücksichtigt. Die Folgen des Dreissigjährigen Krieges in religiösen Hinsichten ebenso wie die Aufklärung sind kein Thema.

Anders setzt der Beitrag zu «Ausdrucksformen jüdischer Religiosität in Deutschland zu Beginn der Neuzeit» an: Ausgehend von Debatten zur Geschichte der deutschen Juden werden kulturelles Kapital und Habitus als Voraussetzungen für eine Annäherung jüdischer und christlicher Lebensweisen diskutiert. Von da aus, so das Ziel, soll die ab der Aufklärung erfolgende Integration der aschkenasischen deutschen Juden in die deutsche Kultur erklärbar werden. Ein Akzent liegt dabei auf der Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit des religiösen Lebens der Juden in Aschkenas; die Minderheit der im deutschsprachigen Raum lebenden sephardischen Juden findet keine Erwähnung. Dieser Beitrag untersucht Prozesse der Ritualisierung des religiösen Lebens sowie einer Umschichtung kulturellen Kapitals zugunsten von Nichtgelehrten an einigen Beispielen genauer. Damit lässt er sich in die in der Frühneuzeitforschung generell wichtigen Forschungsfelder zu ritualisierten Lebensweisen und zum Umgang mit Ressourcen einordnen.

Der Band enthält also zwei ganz unterschiedliche Formate von Beiträgen, die formal wie inhaltlich verschiedenen Konzepten folgen: Im einen Fall (christliche Gross-Konfessionen) wird die Forschungsdiskussion separat und gebündelt geboten und die Informationen davon weitgehend getrennt, sodass für die vielen konkreten Themen der jeweiligen faktenorientierten Hauptteile kaum auf die jeweiligen Forschungslücken und –probleme aufmerksam gemacht werden kann. Im anderen Fall (aschkenasische Juden) ist der Artikel als Forschungsbeitrag geschrieben: Ein Argument wird nachvollziehbar und in Forschungsdiskussionen eingebettet präsentiert, wobei die Informationen darin integriert sind. Inhaltlich wird Religion im einen Fall (christliche Gross-Konfessionen) von klaren Grossgruppen und deren Grenzen her verstanden. Im anderen Fall (aschkenasische Juden) wird Religion unter den Gesichtspunkten von Ritualisierungsprozessen und Umschichtungen von kulturellem Kapital untersucht. Damit sind mehrere Möglichkeiten der Thematisierung von Religion für die Frühe Neuzeit angesprochen, die auch fruchtbar ins Gespräch miteinander gebracht werden können – eine der spannenden Forschungsperspektiven, die der Band eröffnet.

Das den ersten drei Beiträgen implizit zugrunde gelegte Religions-Konzept geht von christlich-kirchlichen Verhältnissen aus und orientiert sich dabei an einem bestimmten Spektrum innerchristlicher Prozesse und ihren politisch- und kirchlich-institutionellen Verflechtungen. Kultur- und Mentalitätsgeschichte wurde auf der Ebene der jeweiligen konfessionellen beziehungsweise religiösen Grossgruppen mitberücksichtigt. Hingegen finden in diesem Ansatz nichtchristliche Religionsverständnisse (etwa jüdische) oder Beziehungen zwischen religiösen Gruppen – von christlichen Gruppen untereinander oder von christlichen Gruppen mit nichtchristlichen (jüdischen oder muslimischen) – keinen Platz, die Kriege mit den Osmanen sowie entsprechende Propaganda werden zum Beispiel nicht thematisiert. Wie wäre es, wenn man das Verhältnis umkehren und den Konfessionalisierungsansatz von der Kultur- und Mentalitätsgeschichte her reflektieren würde? Dies könnte vermutlich zu einem anderen, integrativeren und beziehungsorientierten Religions-Konzept führen – eine wichtige Anregung, die der Band mit dem Nebeneinanderstellen von Religionsgruppen bietet. Der Ansatz des letzten Beitrags unterscheidet sich davon deutlich, ist er doch von vornherein im Kontext einer christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte angesiedelt. Ohne weiteres lassen sich die Konzepte der Ritualisierung und des kulturellen Kapitals auch auf die christlichen Bevölkerungen und ihre religiösen Strukturen und Prozesse übertragen. Hier eröffnen sich spannende Forschungsperspektiven, deren Potential noch auszuloten ist.

Insgesamt bietet der Band ausserordentlich reiche Informationsmöglichkeiten. Zudem zeigt er unterschiedliche Möglichkeiten, mit dem für die Frühe Neuzeit in vieler Hinsicht grundlegenden Thema Religion umzugehen und – ebenfalls sehr wichtig – einen Handbuchartikel zu gestalten. Die Darstellung lässt überraschend viele Gemeinsamkeiten der christlichen Gross-Konfessionen hervortreten – etwa die bestimmende Rolle von Katechismen, Gebets- und Liederbüchern, Erbauungsliteratur, die Verbreitung meditativer und mystischer Zugänge, die Rolle von Dämonen, Teufeln und Engeln, ein religiöses und auf göttliche Leitung orientiertes Geschichts- und Gesellschaftsverständnis oder auch die Botschaften, die von kirchlicher Architektur und Innenausstattung transportiert wurden (und werden). Das für alle Konfessionen gleiche Frageraster macht eine Fülle von Ähnlichkeiten deutlich, sodass von diesem beschreibenden Ansatz her Konfessionalisierung auch als Produktion von strukturellen Analogien sichtbar wird. Alle Beiträge zusammen zeigen, wie entscheidend Texte und der Umgang mit Schriftlichkeit als Ressource waren und wie ungleich diese Ressourcen zwischen verschiedenen AkteurInnen der jeweiligen Gruppen verteilt waren – und dass dies im behandelten Zeitraum ein zentrales Handlungs- und Konfliktfeld ebenso wie ein Feld grundlegender Veränderungsprozesse war. Damit ist ein wichtiges Nachschlagewerk vorgelegt, das ein grosses Potential für neue und veränderte Blickwinkel auf Religion aufzeigt.

Zitierweise:
Gabriele Jancke: Rezension zu: Kaspar von Greyerz, Anne Conrad (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Band 4: 1650–1750, Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 564-567.

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Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 564-567.

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